1 . TAG
ALLEGRO PIÙMOSSO
(SCHNELL, ZIEMLICH BEWEGT)
»Vivat Bacchus! Bacchus lebe! Bacchus war ein braver
Mann!«
Lauter Gesang schwappte aus heiseren Männerkehlen,
etwas holprig, aber dennoch mit geschmetterter Wucht.
Darüber legte sich, tapfer an Höhe gewinnend, ein hell
vibrierender Mädchensopran.
»Vivat Bacchus! Bacchus lebe …«
Die drei grölenden Stimmen trafen auf die Rokokofassade
des Alten Rathauses, gellten hoch bis zur Schwertspitze
der steinernen Justitia, die über dem Eingang thronte,
und rauschten als Echo zurück bis in die Mitte der im rechten
Winkel einmündenden Sigmund Haffnergasse.
»Pschscht! Leise!«
Zwei heftig zischende Mezzosopranstimmen aus Richtung
Alter Markt versuchten, sich energisch gegen den plärrenden
Gesang durchzusetzen.
»Seid still, ihr Verrückten! Schluss mit dem Gejaule! Es
ist zwei Uhr morgens!«
Die drei Angesprochenen wandten kurz die Köpfe nach
rechts, lachten und stapften unbeirrt weiter in Richtung
Getreidegasse. Nicoletta Bartenstein und Heidemarie Laudenbrunn
stöckelten in einigem Abstand dahinter über
das Pflaster. Das Geklapper ihrer Absätze hallte durch die
nächtliche Salzburger Altstadt. Die beiden Frauen gaben sich große
Mühe, die voraustorkelnde, immer noch singende
Dreiergruppe einzuholen. Auch die Damen kämpften
mit dem Gleichgewicht. Doch das lag mehr an den
hohen Absätzen ihrer Schuhe und dem unebenen Boden
unter ihren Füßen, weniger an der Champagnermenge,
die in den vergangenen drei Stunden durch die Kehlen der
fünf Feiernden geflossen war. Die Jüngste der Gruppe, die
16-jährige Leonie, hatte sich bei ihren Begleitern untergehakt
und trieb die zwei Männer zu schnellerer Gangart an.
Sie wollte jetzt keinesfalls von ihrer Mutter und ihrer Tante
eingeholt werden. Sie wollte singen! Immerhin war heute
ihr 16. Geburtstag. Und den feierte sie hier in Salzburg.
Bei den Salzburger Festspielen! Das war ihr Wunsch gewesen.
Sie hatte eben im Kreis ihrer Familie ein fünfgängiges
Luxusmenü im nahe gelegenen K+K Restaurant genossen
und dazu teuren Champagner geschlürft. Davor hatte
sie ausgelassen in den frenetischen Jubel eingestimmt, der
das Aufführungsende der Oper ›Die Entführung aus dem
Serail‹ im Haus für Mozart begleitet hatte. Und jetzt tänzelte
sie durch die berühmtesten 500 Laufmeter der Salzburger
Altstadt, durch die mittelalterliche Getreidegasse.
Die Beleuchtung war schwach. Die meisten Hausfassaden
lagen im Dunkeln. Aber das Streulicht aus der Umgebung
und das der Sterne vom wolkenlosen Nachthimmel
reichten aus, der Gasse einen magischen Glanz zu verleihen.
Die großen schmiedeeisernen Zunftzeichen, die von
den Fassaden über den Geschäften bis weit in die Gasse
hingen, glänzten im matten Widerschein. Die alten Schilder
und die hohen schmalen Häuserreihen mit den vielen
Verkaufsläden gaben der Gasse eine nahezu märchenhafte
Aura. Leonie kam es vor, als spaziere sie durch ein altes
enges Städtchen aus einem der Geschichtenbücher ihrer
Kindheit. Morgen, bei Tageslicht, würde sie hier shoppen
gehen und sich von Onkel Gunnar und Tante Heidemarie
in einem der Läden ein schickes Kleid schenken lassen.
Aber jetzt wollte sie singen! Egal, wie spät es war. Schließlich
wird man nur einmal 16!
»Also, Papa. Noch einmal!« Sie fasste ihren Vater am
Arm, den im gesamten Landkreis ihrer Heimatstadt allseits
geschätzten Tierarzt Dr. Aigulf Bartenstein, und zog
ihn weiter durch die Gasse. An der anderen Hand hatte sie
ihren Onkel im Schlepptau, Gunnar Laudenbrunn, erfolgreicher
Immobilienmakler und Fraktionsführer im Stadtrat
von Bad Kreuznach.
»Komm schon, Onkel Gunnar. Lass deinen Tenor …!«
Erschallen wollte sie sagen, aber der Schluckauf kam ihr
zuvor. Aus ihrer Mädchenkehle kullerte ein dreimaliges
Kieksen. Säuerlicher Geschmack füllte ihren Mund,
brannte in der Kehle. Das fühlte sich übel an. Egal! Sie
schluckte einmal kräftig und holte tief Luft. Sie wollte jetzt
unbedingt dieses lustige Lied weiter trällern, mit dem der
schlaue Pedrillo in der Mozartoper den doofen Osmin in
die Alko-Falle gelockt hatte. Ein besoffener Haremswächter
erhöht die Chance der Helden, die gefangenen Frauen
zu entführen.
Sie räusperte sich und legte los. »Das schmeckt trefflich!
Das schmeckt herrlich!« Ihre Stimme hörte sich zwar im
Augenblick eher an wie eine quietschende Kellertür, aber sie
traf dennoch jeden Ton. Acht Jahre Klavierunterricht und
vier Jahre Gesangsausbildung machten sich eben bezahlt.
Die Melodie dieses Duetts würde sie allerorts und jederzeit
punktgenau und stilsicher herausbringen, selbst im Champagnerdusel
um zwei Uhr morgens mitten in der Salzburger
Altstadt mit zwei besoffenen alten Herren an der Seite.
»Leonie, Schatz! Bleib stehen. Sei wenigstens du vernünftig.
« Die Stimme ihrer Mutter wurde lauter. Die beiden
Ladies im Abendkleid hatten ein wenig aufgeholt. Es galt, die
Strategie zu ändern. Leonie löste rasch eine Hand vom Arm
ihres Onkels, griff nach unten und zog sich die Schuhe aus.
»Aber Leonie, Schnuckelchen! Du kannst doch nicht
ohne Schuhe laufen!« Und ob sie das konnte! Barfuß würde
sie besser vorankommen. Und sie hatte ihrer Mutter gefühlte
tausend Mal eingebläut, sie nicht Schnuckelchen zu nennen.
Sie war keine Fünf mehr, sondern auf den Tag genau 16 Jahre
alt. Das Pflaster fühlte sich angenehmer an, als sie erwartet
hatte. Keineswegs kalt. Ihre Fußballen klatschten über den
Boden. Energisch zog sie die beiden Herren im Smoking mit
sich fort, die nächtliche Gasse entlang. Dem Tierarzt war
der Elan seiner Tochter etwas zu heftig, er kam ins Straucheln,
stützte sich an einem der verschlossenen Hauseingänge
ab. »Na so was!«, lallte er. »Schon wieder Mozart!«
Er war gegen die kantige Eingangsmauer des Café Mozart
getaumelt. Wie auf Kommando schauten alle drei nach oben
zum kunstvoll geschmiedeten Auslegearm, der hoch über
dem Eingang des Kaffeehauses aus der Wand ragte und das
ovale Schild mit dem Lokalnamen trug.
»Sssselbstverständlich!« Der Immobilienmakler
bemühte sich, seine vom Alkohol schwere Zunge in den
Griff zu bekommen. »Café Mozart gibt es hier schon seit
1923. Getreidegasse 22. Von den Brüdern Crozzoli eröffnet!
So was weiß man, mein Lieber.«
»Keinen Vortrag über Kulturgeschichte, Onkel Gunnar!
Jetzt wird gesungen!«, befahl das Geburtstagskind und
stapfte weiter. Die beiden Männer folgten. Erneut schallte
grölender Gesang zwischen den Häusern.
»Es leben die Mädchen, die blonden, die braunen …«
»Halt!« Gunnar Laudenbrunn blieb abrupt stehen.
»Und die pinken!«, lallte er.
Das passte zwar nicht zum Duett der Mozartoper, aber
zum coolen Haarlook seiner Nichte. Dann versuchte der
Fraktionsvorsitzende aus Bad Kreuznach eine galante Verbeugung,
was ihn fast zu Sturz brachte. Leonie grinste und
drückte ihm schmatzend einen Kuss auf die Wange. Sie
waren inzwischen auf Höhe eines asiatischen Restaurants
angekommen, von dessen Eingang ein goldener Fisch mit
dem Kopf nach unten über dem Pflaster baumelte. Noch
etwa 300 Meter, dann würden sie ihr Ziel erreicht haben,
das Hotel Goldener Hirsch.
»Meine Herren, weiter im Lied, bevor uns Mama und
Tante Heidemarie einholen!«, kommandierte die 16-Jährige.
Papa Bartenstein, erster Bariton im Bad Kreuznacher
Männergesangsverein, warf sich in Positur, legte allen
Schmelz, zu dem er noch fähig war, in seine Stimme. »Ah!
Das heiß ich Göttertrank!«
Tochter und Schwager setzten ein. »Vivat Bacchus! Bacchus
lebe! Bacchus, der den Wein erfand!« Ihre Schritte
stampften im Takt des Liedes über das Pflaster.
»Aigulf, du alter Esel. Bleib stehen! Und hört endlich
mit dem Geplärre auf.«
Nicoletta Bartenstein klang plötzlich ganz nahe. Wie hatten
die beiden Frauen so schnell aufgeholt? Leonie drehte
sich erstaunt um. Mutter und Tante standen unmittelbar
hinter ihnen, zeigten grinsend ihre italienischen Designerschuhe,
die sie, Leonies Beispiel folgend, ebenfalls ausgezogen
hatten.
»Genialer Einfall, Mama! Könnte glatt von mir sein.«
»Wisst ihr was?«, kicherte Gunnar Laudenbrunn lauthals.
»Wir sind an einer Schlüsselstelle!« Er deutete nach oben.
Sie standen genau unter einem riesigen schwarzgoldenen
Schlüssel, der im Schnabel eines Vogels hing,
das Zunftzeichen der Schlosserei Wieber. In der nächsten
Sekunde prusteten alle fünf gleichzeitig los. Das Gelächter
aus hellen und tiefen Stimmen hallte durch die mittelalterliche
Gasse. Lachtränen schossen aus geschminkten
Augen, zogen kleine silbrige Spuren über von Wangenrouge
getönte Backen.
Plötzlich mischt sich in den heiteren Lärm eine weitere
Stimme. Ein Schrei. Aus der Ferne. Hoch und schrill. Übertönt
das Gelächter, schneidet in die Gehörgänge der Feiernden.
Der Schrei klingt nach Verzweiflung. Abrupt halten
die fünf inne, wenden sich um. Etwas Schemenhaftes hetzt
aus der Dunkelheit auf sie zu, vorbei an den geschlossenen
Läden der Geschäfte. Eine helle Gestalt mit langen Haaren.
Das spärliche Licht wirft silbrige Fetzen auf den zierlichen
Körper, der die Gasse durchpflügt. Es ist eine junge Frau,
die heraneilt. Leonie kann nicht glauben, was sie sieht. Die
Frau ist nackt, bekleidet nur mit einem Slip. Und sie schreit.
»Er stirbt!«
Die fünf stehen wie gebannt. Kein Lachen mehr. Nur
Fassungslosigkeit ob der unerwarteten gespenstischen
Erscheinung.
»Bitte helfen Sie!« Die junge Frau bremst abrupt ab.
Unwillkürlich weichen die fünf einen Schritt zurück. Das
Gesicht der Frau ist pure Verzweiflung. Sie greift nach der
erstbesten Hand, die sie fassen kann. Es ist der Arm von
Aigulf Bartenstein. »Schnell!« Sie zerrt ihn mit, hetzt mit
blanken Füßen den Weg zurück, den verdatterten Tierarzt
wie eine Beute hinter sich her schleifend. Leonie löst
sich als Erste aus der Erstarrung, setzt sich in Bewegung,
folgt den beiden. Das Mädchen vor ihr läuft schnell, Leonie
kann kaum folgen. Plötzlich schwenken die beiden
nach rechts, verschwinden in einem Hauseingang. Leonies
Füße beschleunigen. Sie erreicht das offene Portal,
das eben die verzweifelte junge Frau und ihren Vater verschluckt
hat. Das ist… Mozarts Geburtshaus!